With thanks to Sonja Mühlberger
 

Berliner Morgenpost

 

Heimkehr ins Exil

 

Mehr als 18.000 europäische Juden flohen vor den Nazis nach Shanghai. Die Berlinerin Inge Booker war eine von ihnen. Jetzt kehrte sie dorthin zurück

 

Von Johnny Erling

 

Als Inge Booker auf einem alten Foto das Café Louis sieht, kommen die Erinnerungen wieder. Spontan deutet sie in der Ausstellung der ShanghaierOhel Rachel Synagoge aufdas BUd:

‘Da gab es die beste Sahne”. Die 83jährige einstige Berlinerin erzählt von ihrem Exil: “Am 13. Dezember 1942 heirateten mein Mann und ich.” Das Geld reichte gerade aus, “urn für unsere 15 Hochzeitsgäste je zwei kielne Stuck Kuchen bei Louis zu kaufen. Mit Sahne.”

 

Dabei war, so schränkt die aus den USA nach Shanghai gekommene )üdin el ihr Zufluchtsort alles andere als Zuckerschlecken. Sie hauste von 1939 an mit ihren Eltern im überfüllten Stadtviertel Hongkou (Hongkew) närdlich der Innenstadt. So wie ihre Familie kämpften mehr als 18 000 europäische Juden urn ihren Platz zum Uberleben mitten zwischen 100 000 ansässigen Chinesen. Elgentlich woilte Inge Booker, eine geborene Buchholz, nach ihrer Aufnahme 1948 in den USA nichts mehr von alten Zeiten wissen. “Ich lebe heute und für die Zukunft”, sagte sie immer wieder. Einmal blickte sie zurUck. 1991 suchte sie in Berlin ihr Geburtshaus “am Kurfürstenda mm, Ecke Joachimsthaler” auf, das sie mit 17 Jahren verlassen muBte. “Eine Woche habe ich geweint.”
 

Wozu solite sie nach Shanghai fahren? Was könnte sie dort finden? Etwa ihre armselige Behausung, deren Gasse morgens stank, weil aVe ihre Nachttopfe zum Abholen herausstellten? Sie wolite auch nicht mehr an Pyjamas und Kragen denken, die sie nähen muBte. Der Vater verkaufte wie em Vertreter ihre Heimarbeiten, sagt Inge Booker. Die Familie wohnte auf engstem Raum, im schwUlen Sommer ohne Dusche, bed roht von Typhus und Ruhr. Aber sie überlebte im fernen China den Holocaust.

 

Ihre Freundin Eva Hartwich (geborene Braunsberg), uberredete Inge Booker mitzukommen. Eva hatte mit 16 Jahren Hannover verlassen. Ihr Vater war da schon sechs Jahre tot. Er hatte sich 1933 nach den Judenpogromen, die sein Geschàft zerstärten, das Leben genommen. Sie heiratete in Shanghai, bekam dort wie Inge em Kind und ging genauso wie sie 1948 in die USA. Beide Frauen hielten Uber die Webseiten der “Rickshaw Reunion” von Rene Willdorff Kontakt mit Shanghaier Leidensgefährten. Von ihnen leben heute weltweit verstreut noch knapp 500 Europäer. Als Wilidorif zur “Reunion” in Shanghai einlud, meldeten sich nach langem Zägern beide Frauen an.

 

Fast 120 “Shanghailander”, wie sich die Uberlebenden der Exilgemeinschaft einst nannten, folgten mit Kindern und Enkein vergangene Woche dem Ruf zur Reunion in Shanghai. Unter ihnen sind 45 Fluchtlinge der ersten Stunde, wie der einstige Hamburger Lehrer Bruno Katz, der mit semen 95 Jahren aus Hawaii komrnt. Viele waren einst auf Schiffen aus Triest, Genua oder Marseille nach Shanghai geflohen. Es war der einzige Hafen der Welt, der sie als Internationales Konzessionsgebiet ohne Einreisevisum an Land lieB.

 

Im Flugzeug, 67 Jahre nach ihrer ersten Ankunft, denkt Inge Booker an ihre einmonatige Uberfahrt von Bremerhaven aus zurück. Jeden Tag bangte sie damals, was sie erwarten würde.  “Wir kamen doch als Schnorrer.”

 

Um so ungläubiger schauen die angereisten Fluchtlinge auf die VIP-Schilder “Wichtige Persönlichkeiten”, die sie bei der Begruβung durch Shanghais Bezirksregierung auf ihren Plätzen vorfinden. Viele Jahrzehnte woilte das seit 1949 von Komrnunisten regierte China nichts mit dem Erbe der Judenrettung aus vorrevolutionärer Zeit zu tun haben. Inzwischen 1st die Stadtregierung stolz, daB Shanghai zum Schauplatz einer humanitären Gro6tat wurde. Das wird nicht dadurch geschmãlert, daB China die Umstände weder zu verantworten hatte noch beeinflussen konnte. Nur eine Tatsache zählt: “Wir wurden für verfolgte Juden zur Arche Noah im Osten”, schreibt die grOBte Tageszeitung “Wenhuibao”.

 

Vizeburgermeister Chi Hong preist die jüdische Kultur mit ihren Geschäften, Theater und Zeitungen. Die Fiüchtiinge hãtten aus ihrer Not eine Tugend gemacht und den Stadtteil Hongkou bereichert. Selbst dann noch, als 1943 das nur 28 Hektar grol3e Stadtgebiet Tilanqiao von ja pa nischen Besatzungstruppen a uf Druck Nazideutschlands zum ghettoartigen Sperrbezirk erkiärt wurde, den Juden ohne Passierschein nicht verlassen durften.

 

Shanghai hat inzwischen den Distrikt zum historisch wertvollen Viertel erklärt, der vor AbriB geschützt wird. Seit 2004 werden die Häuserfassaden renoviert. Pan Guang, Direktor des Shanghaier Zentrums für jüdische Studien, spricht von einer Stätte des Gedenkens, das sich Chinesen und Juden “für kUnftige Generationen bewahren wolien”. Er initliert eine Unterschriftenkampagne. Die Unesco soil den Zufluchtsort als Weltkulturerbe anerkennen. Im Gedenkpark Huoshan (einst Wayside) tragen sich die Shanghailänder auf elnern groBen Stofftransparent em.

 

In der als Museum unter Denkmalschutz stehenden Ohel-Moishe-Synagoge, elne der beiden noch vorhandenen von früher sieben Synagogen Shanghais, liegen Nachdrucke eines Ernigranten-AdreBbuches vom November 1939 aus. Inges Vater Buchholz und Evas Mutter Braunsberg sind enthalten. Die Emigranten waren nur Tell elner grof3en Zahi von Juden, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts nach Shanghai kamen, berichtet Rabbi Shalom Greenberg vom Shanghai Jewish Center. Heute lassen sie sich erneut nieder. 1000 Juden leben wieder unter den 20 Millionen Menschen in Shanghai, meist zugezogene Geschäftsleute mit Familien. Jede Woche kommen vier Familien dazu, weiB das Zentrum für jüdische Studien. 1976 zahlte Shanghai gerade noch zehn Juden.

“Ich bin wieder zu Ha use”, ruft die einstige Wienerin Erika Spindel, geborene Liebermann. Im Häusergewirr der Gassen neben der Zhoushan-StraBe (die früher Chusan-Road oder “Little Vienna” hiel3) entdeckt nun auch der Berliner Gary Matzdorff “meine Wohnung”. Inge Booker kommt die enge Gasse so vertraut vor, da6 sie dort eine wildfremde Chinesin umarmt:

“Obwohl wir einst zu chinesischen Nachbarn keinen Kontakt hatten”. Trotz des irritierenden Autoverkehrs fàllt ihr alles wieder em. 200 Meter von der Ohel-Moishe-Synagoge entfernt stand das Wiener Café Delikat. Gegenuber lag die Apotheke und unweit das Hospital, wo ihre Tochter zur Welt kam. Auf der anderen Stral3enseite versteckte sich das gral3te Gefängnis Asiens.

 

Hinter hohen Mauern verborgen nutzt auch das heutige Shanghai weiter die riesige Haftanstalt mitten im alten Stadtteil. Als Inge Booker an der Seitenma uer des Gefang nisses entlanggeht, stOBt sie auf zahlreiche Obst- und Gemüsestände. “Das war früher der Markt. Ich musste hier immer einkaufen.” Von hier an haben sich die StraGennamen nicht geandert. Sie biegt in die TongshanstraBe ab. Ihre Schritte werden schneller. Nummer 599 erkennt sie am Eingang. Dahinter verzweigen sich kleine Gassen. Zielsicher steuert sie eine davon an. “Die haben hier Air Condition” stelit sie als Veränderung fest. Noch em paar Meter, und sie steht vor Nummer 35. Die 83jährige tacht platzlich so jugendlich wie das Mãdchen, als daB sie einst hier lebte. “Hinter der Tür haben wir gewohnt. Ich hätte nicht geglaubt, das noch zu sehen.”

 

Die “Rickshaw Reunion” im Internet: http://www.rickshaw.org

 

© Berliner Morgenpost 2006